Mario Vargas Llosa – Der Geschichtenerzähler (Buchrezension)
Der peruanische Nobelpreisträger entführt uns in die Welt des Amazonas
Diese wunderschöne Geschichte dreht sich um die peruanischen Ureinwohner. Mario Vargas Llosa stellt die Frage, in wie weit sich die westliche Zivilisation in jahrtausendealte Traditionen einmischen darf. Dies ist auch Hauptthema der Streitgespräche des Ich-Erzählers, dessen Namen wir nicht erfahren, und Saúl Zuratas, beides Studenten des linguistischen Instituts. Dieses nämlich ist in den tiefsten Gegenden des Amazonas tätig mit dem Ziel, den Fortschritt an die verschiedenen Stämme heranzutragen. Nur ein Volk ist nahezu unnahbar, der Stamm der ‘Machiguengas’. Sie bilden keine Dörfer, leben in absoluter Abgeschlossenheit und sind ständig auf Wanderschaft. Mystische Figuren, die Geschichtenerzähler, scheinen dieses Volk zusammenzuhalten, indem sie alte Geschichten und Traditionen weitergeben. Das linguistische Institut ist nun ertmals dabei, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, durchaus mit guten Absichten. Für Saúl Zuratas jedoch bedeutet jegliche Einmischung aber zugleich Zerstörung – die Zerstörung der Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Saúl Zuratas
1956, Peru. Saúl Zuratas zieht es immer wieder nach Madre de Dios, in den Urwald bei Cusco, wo er seinen Vetter besucht. Von Eingeborenen wird er zu langen Expeditionen mitgenommen und so in den Bann gezogen von seinen Erlebnissen in diesem grünen Ozean. Stets kehrt er schwärmerisch nach Lima, der Hauptstadt Perus, zurück. Dem Ich-Erzähler berichtet er dann von seinen Begegnungen mit den verschiedenen Stämmen. Er spricht vom Gleichgewicht von Mensch und Natur. Von der Tatsache, dass die Stämme nur deshalb überleben, weil sich ihre Sitten und Gebräuche den Rhythmen der Gezeiten angepasst haben und der Notwendigkeit, diesen Lebensraum zu akzeptieren, um nicht unterzugehen.
Kulturen respektieren
Was die westliche Welt in der Amazonasregion mache, sei ein Verbrechen. Jegliche Einmischung in das Leben der Stämme ein zerstörerischer Akt. Genau diese Einmischung wirft Saúl Zuratas dem linguistischen Institut, von dem er sich gerade durch seine gemachten Erfahrungen distanziert und sogar ein begehrtes Stipendium in Europa ablehnt, vor. Die im Urwald tätigen Linguisten seien Fanatiker, die die Ureinwohner an die eigene westliche Kultur, Sprache und die Bibel heranführen wollen. Doch seiner Meinung nach solle man deren Kultur respektieren, indem man sich ihnen nicht nähert. Die westliche Welt sei zu stark und zu aggressiv, habe bereits aus den Nachfahren der Inka ein Volk von Schlafwandlern gemacht. Gleiches solle man den übriggebliebenen Stämmen ersparen. Fortschritt, Geld, die Bibel, all das richte sie zugrunde.
Ist eine primitive Lebensweise erhaltenswert?
Unser Ich-Erzähler ist da anderer Meinung. Warum soll es bitte gut sein, die primitive Lebensweise der Stämme genauso zu erhalten. Seien denn Polygamie, Animismus, Schrumpfköpfe und Hexerei eine erhaltenswerte Form der Kultur? 1958 nimmt dieser kurz vor Antritt eines Stipendiums in Madrid an seiner ersten Amazonas-Expedition teil. Dort bekommt er einen prägenden Eindruck von dieser Umgebung – von der Gewalt und Einsamkeit der Natur. Dem Leben, das der Steinzeit gleicht, aber auch der Schönheit dieser grünen Welt. „Yarinacocha in der Stunde der Abenddämmerung, wenn der rote Mund der Sonne hinter den Wipfeln der Bäume zu versinken beginnt und die grünlichen Wasser des Sees unter dem indigoblauen Himmel, an dem die ersten Sterne flimmern, wie in Flammen lodern, ist eines der schönsten Schauspiele, die ich je gesehen habe.“ Er bekommt natürlich auch einen Eindruck von der Arbeit des Linguistischen Instituts. So werden die Eingeborenen alphabetisiert, lernen Sprachen. Besonders prägend ist seine Begegnung mit einem Linguistenpaar, das seit Jahren unter den Stämmen lebt.
Die Machiguengas
Von ihnen hört er zum ersten Mal vom Stamm der Machiguengas, einem kleinen Volk, das fast völlig isoliert ohne jegliche Kommunikation zu den Weißen lebt. Fast keine Überlieferungen gibt es über sie, kaum ein Missionar ist bis zu Ihnen vorgedrungen. Das besagte Ehepaar aber hat sich über Jahre langsam angenähert und es geschafft, sporadisch mit einzelnen Familien über einen längeren Zeitraum unter gleichen Bedingungen zusammenzuleben mit dem Ziel, mehr über dieses unbekannte Volk zu erfahren. Bei den Machiguengas handele sich um einen Stamm, der seit langem auf Wanderung sei, niemals sesshaft werde und nie Dörfer gründe. Sie bewegen sich mit den Sternen und trügen keine Namen. Es gebe nur den, der kommt und den, der geht. Eine hohe Zahl von Freitoden sei die Folge der Verweigerung jeglicher Form der Genesung von Krankheit. Wer stirbt, wer geht, der kommt auch zurück. Wenn man also sowieso fortgehen muss, warum dann genesen?
Der Geschichtenerzähler
Sie erzählen ihm von den mystischen Figuren des Stammes, von Seripigaris und Machikanaris, schamanenähnliche Gestalten, und von einer besonders eigenartigen Person, die weder Heiler noch Priester zu sein scheint, einem Geschichtenerzähler. Dessen Funktion sei völlig unklar. Während den Begegnungen mit den Machiguagas, erzählt das Linguistenpaar weiter, habe man Ihnen den Geschichtenerzähler stets vorenthalten. Bei dessen Auftauchen seien die Machiguengas verschwunden, um Tage später wieder aufzutauchen, ohne mit ihnen darüber zu sprechen. Unseren Ich-Erzähler berührt diese Tatsache zutiefst, welche ihn von nun an nicht wieder loslassen wird. Denn, so denkt er, man umgibt das mit einem Geheimnis, was einem wichtig ist. Waren diese Erzähler vielleicht Mentoren der Gesellschaft der Machiguengas, die Briefträger, das Gedächtnis dieses so weit verstreuten Volkes? Ist der Geschichtenerzähler ein Ersteller der Gemeinschaft zahlloser einsam durch die endlosen Weiten des Amazonas pilgernder Machiguenga-Familien?
Saúl Zuratas verschwindet
Mit der Abreise nach Europa zerbricht auch der Kontakt zu Saúl Zuratas. Dieser, erfährt er später, habe dem linguistischen Institut endgültig den Rücken gekehrt und lebe nun in Israel. Wie gerne hätte er mit ihm über die Machiguengas gesprochen, denn so oft muss er an die Geschichtenerzähler denken, für ihn das schönste und zarteste Merkmal dieses kleinen Volkes. Mühsam versucht er alles über diese herauszufinden, doch in keiner Überlieferung gibt es auch nur einen Hinweis über sie. Es vergehen die Jahre, und immer wieder schleichen sich die einsam durch die Wälder geisternden Erzähler in seine Träume ein. Gibt es sie wirklich?
Rückkehr in den Amazonas
Viele Jahre später,1981, er arbeitet mittlerweile für einen Fernsehsender, verschlägt es ihn für den Dreh über die Arbeit des Linguistischen Instituts erneut in den Amazonas. Die ideale Gelegenheit, mehr über die Geschichtenerzähler herauszufinden. Zunächst ist er aber erstaunt über die drastischen Veränderungen, die er vorfindet. Das linguistische Institut hat die Machiguengas dazu gebracht, Dörfer zu gründen. Sie leben also nicht mehr in der ursprünglichen Zersplitterung. Sogar die Bibel ist bereits in deren Sprache übersetzt. Es gibt Autoritäten und Hierarchien – Strukturen, die es in der langen Geschichte des Stammes niemals gegeben hat. Es wird Sprachunterricht gegeben und rege Handel getrieben. Somit hat sich auch der Wert des Geldes in deren Leben eingeschlichen. Er sieht somit alle Vorurteile seines verschwundenen Freundes Saúl Zuratas bestätigt und fragt sich unausweichlich, ob dies alles wirklich zum Wohl der Machiguengas beiträgt. Sind aus ihnen bereits Zombies geworden, Karikaturen westlicher Menschen, wie die Nachfahren der Inkas? Wird diese Gesellschaft nun verschwinden, wie so viele andere zuvor? Und wo sind die Geschichtenerzähler?
In Yarinacocha trifft er überraschend das besagte linguistische Ehepaar wieder. Als er sie nach den Geschichtenerzählern fragt, erwidern diese zu seiner Überraschung, im Laufe der letzten zwanzig Jahre zweimal einem solchen begegnet zu sein. Sie berichten ihm von den mystischen Gestalten, die aus dem Nichts erscheinen, um dann stundenlang, ganze Nächte lang zu erzählen. Von den Machiguenga-Familien, die im Kreis sitzend gebannt deren kryptischen Worten lauschen. Dann ist da noch die zweite Begegnung mit einem ganz anders anmutenden Geschichtenerzähler, den man den Gringo nenne, weil er ein Albino sei, also weiß und zudem äußerst aggressiv. Nur mit Widerstand habe man die Anwesenheit des Ehepaars geduldet. Wie er denn genau aussah, fragt unser Ich-Erzähler. Rotes Haar, ein großer Leberfleck im Gesicht, eine eher westliche Figur, bekommt er zur Antwort. In diesem Moment kommt ihm der Verdacht. Handelt es sich bei diesem Geschichtenerzähler um seinen verschwundenen Freund Saúl Zuratas? Ist er ein Geschichtenerzähler geworden, ein Träger der Geheimnisse und Bewahrer der Kultur der Machiguengas ? Sabotiert er auf diese Weise gar die Arbeit des linguistischen Instituts?
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