Gesellschaft, Politik,  Umwelt, Naturschutz

Die letzte Generation – eine zufällige Begegnung

Unser Planet ist unser Zuhause, unser einziges Zuhause. Wo sollen wir denn hingehen, wenn wir ihn zerstören.

Dalai Lama, Interview mit Franz Alt, 2004

Es ist nicht lange her, da fuhr ich von der Arbeit über den Hauptbahnhof nach Hause. Genau vor dem Bahnhof war ein riesiges Gewusel, Blaulichter überall, und Stau entlang der Invalidenstraße. Mich tangierte das nicht, denn ich war – wie an jedem anderen Tag auch – mit dem Rad unterwegs. Die vier oder fünf jungen Menschen saßen auf der Straße, ihre Hände festgeklebt, mit ernstem, etwas traurigem, aber dennoch bestimmten Blick. Das war bemerkenswert, denn was diese Menschen zu spüren bekamen, war extrem. Da kam eine Frau aus dem Bahnhof, schick gekleidet auf dem Weg zur Tram. Sie ging wutentbrannt auf die Demonstranten zu und beschimpfte sie, ihre gesamte Mimik voller Hass. Diese Art des Protestes, so sagte sie, treffe die Falschen. Ich stieg von meinem Rad am, stellte es an die Seite und beobachtete das Ganze eine Zeit lang. Ich vernahm, dass etliche aus dem Bahnhof strömende Menschen, die mit der Situation konfrontiert wurden, unterschiedlich reagierten, entweder mit Wut, mit Zweifel oder gar mit Zustimmung. Was war meine Meinung dazu? Was darf Protest und was darf er nicht? Und, ging das hier zu weit?

Glaub keinem, der dir sagt, dass du nichts verändern kannst. Die, die das behaupten, ham’ nur vor Veränderung Angst. Es sind dieselben, die erklären, es sei gut so, wie es ist. Und wenn du etwas ändern willst, dann bist du automatisch Terrorist. Lass uns diskutieren, denn in unser’m schönen Land. Sind zumindest theoretisch alle furchtbar tolerant. Worte wollen nichts bewegen, Worte tun niemandem weh. Darum lass uns drüber reden, Diskussionen sind okay. Geh mal wieder auf die Straße, geh mal wieder demonstrieren. Denn wer nicht mehr versucht zu kämpfen, kann nur verlieren. Die dich verarschen, die hast du selbst gewählt. Darum lass sie deine Stimme hör’n, weil jede Stimme zählt –

Die Ärzte – Deine Schuld, Album: Geräusch

Ich sehe mich auch als eine Art Klimademonstrant. Keiner, der sich auf die Straße klebt. Aber einer, der jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit fährt, der kein Fleisch ist, keine Milch trinkt. Nicht aus Spaß, sondern aus ökologischen Gründen, aus Gründen des Klimaschutzes. Ich bin auch jemand, der gerne verreist, die Welt sieht, und dadurch auch Schaden anrichtet, natürlich. Aber ich mache mir Gedanken darüber, ändere mein Verhalten, manchmal nicht immer. Ich denke es geht nicht darum zu sagen, mach das so und mach das da so. Es geht darum, sich über den eigenen Klima-Abdruck bewusst zu werden und dadurch bewusster zu leben. Sprich: sich Gedanken zu machen. Auf was kann ich verzichten und auf was nicht? Ich habe für mich eingesehen, dass wir, das ich als Angehöriger einer Industrienation mitverantwortlich bin für eine sich anbahnende Klimakatastrophe, die in ihrem hässlichen Schweif ein nie da gewesenes Artensterben mit sich bringt, eine Zerstörung der Natur sowie Hunger und Elend überall auf der Welt. Und ich, ich verdammt nochmal bin ein Teil in diesem System. Und alle anderen sind das auch.

Kein Mensch kann seine Mutter besitzen, keiner kann die Erde zu seinem Eigentum machen.

Ojibwa

Entgegen der Frau und der vielen wütenden Menschen, die behaupten, dieser Protest träfe die Falschen, muss ich zurückfragen: Ist das denn tatsächlich so, trifft es wirklich die Falschen? Natürlich, in den Staus, die da verursacht werden, sind ganz sicher Menschen, die aus wichtigen Gründen irgendwohin müssen, allen voran Handerker, Krankenwägen, Polizei usw. Sprich: EINER VON HUNDERT! In diesen Staus sitzen zum allergrößten Teil aber Menschen allein in einem Typ Auto, der mittlerweile die gesamte Straßenbreite einnimmt und für die man die Parkplätze sogar vergrößern muss, weil sie sonst nicht mehr drauf passen. Wenn ich mit dem Rad durch die Stadt fahre, dann sehe ich, dass in 99 Prozent aller Autos EXAKT EINE PERSON SITZT! Menschen, die mit Rad, Bus und Bahn fahren könnten, aber es nicht machen, weil sie keine Lust dazu haben! Menschen, die einer Gesellschaft angehören, die mit 750 Millionen Tonnen CO² zu den Top-Ten Emittenten weltweit zählt (Quelle) und pro Kopf mit 9 Tonnen CO² (Quelle) auch ganz vorne mit dabei ist. Wir verursachen damit das 9-fache an CO², als klimaverträglich wäre. Damit ist jeder Durchschnittsbürger in diesem Land mitverantwortlich für Tierarten, die unwiederbringlich verschwinden, für Ökosysteme, die kollabieren und ja, für den Klimakollaps, der sich anbahnt. Statt sich Gedanken zu machen über die eigene Rolle an der ganzen Misere und ggf. das eigene Verhalten zu überdenken, wird die Zeit lieber dazu verwendet, dieser Gruppe junger Menschen mit Hass zu begegnen, der sich mitunter in Gewalt- und Mordphantasien in den Kommentaren im Netz ausartet, wie ich ihn nie erlebt habe.

Tötet nicht die Bäume, macht nicht das Wasser unserer Flüsse trübe. Reißt nicht das Eingeweide unserer Erde auf.

Keokuk, Häuptling der Sauk

Woher dieser Hass? Ich kann es mir nur dadurch erklären, dass wir Deutsche kulturell bedingt eine Art Mensch sind, die sich wie niemand anderes auf der Welt extrem durch das Fahrzeug definiert, eine Art Mensch, die…

  • … sonnige Wochenenden dazu nutzen, viel Zeit an Waschanlagen zu verbringen, zu saugen und zu putzen, um das funkelnde Blechstück im Anschluss spazieren zu fahren und im liebevoll designten Carport der Nachbarschaft zu präsentieren.
  • … sich ein Leben ohne Auto nicht vorstellen kann.
  • … die, obwohl das überall auf der Welt normal ist, sich nicht vorschreiben lassen möchte 130 auf einer Autobahn zu fahren, obwohl das so unendlich viel CO²-Einsparung bringt.

In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in der Verbindung mit dem Ganzen steht.

Johann Wolfgang von Goethe

Dieser Typus Mensch wird hofiert von Politik und Lobby, da über 20 Millionen Autofahrer ein Haufen Wählerstimmen ausmachen. Wenn junge Familien während der Corona-Pandemie enormes leisten, sich regelrecht zerreißen, oder eben junge Menschen zu Recht für den Erhalt der Welt auf die Straße gehen, dann hat das für Politiker wenig Relevanz, weil keine Lobby für diese Gruppen existiert, kein Geld zu holen ist und auch die Wählerstimmen nicht relevant sind, zumal viele junge Menschen gar nicht wählen dürfen. Ich sehe in der völlig überzogenen Haltung vor allem bayrischer Politiker die Autolobby regelrecht vor Augen vor mir und lasse mich davon nicht blenden!

Die Kosten für eine Wiederherstellung beschädigter Ökosysteme sind zehnmal höher als für Naturschutz.

Tim Kasten, stellvertretende UNEP-Direktor zur UNEP Studie Juni 2010

Alles, was die hier demonstrierende Gruppe verlangt, ist unterm Strich ein 9 Euro-Ticket und ein Tempolimit von 130, um das mal auf eine sachliche Ebene zu bringen. Diese Forderungen sind ein Witz, geradezu lächerlich klein. Der Protest ist so dermaßen friedlich, geradezu handzahm. Sogar ich demonstrierte als Student gegen Studiengebühren härter! Zum Vergleich: Angehörige der 68er Generation haben in Talkshows mit Äxten ganze Tische zerlegt und scheuten auch nicht vor massiven Zusammenstößen mit der Polizei zurück. DA GAB ES OHNE ZU REDEN GLEICH AUF DIE FRESSE! Und ja, auch dabei wurden Straßen blockiert, und auch da kam mancher Krankenwagen nicht durch. Beim G7-Gipfel im Hamburg war die Stadt ein einziger Kriegsschauplatz. Wurde dieser Bewegung vorgeworfen, Krankenhaustransporte blockiert zu haben? Wir können, insbesondere die in ihren SUV sitzende Boomer-Generation, heilfroh sein, dass diese jungen Menschen nicht ganz anders mit ihnen abrechnet! Stattdessen sitzen diese einfach friedlich da und zwingen Autofahrer dazu, mal einen Moment innezuhalten und nachzudenken.

Ein 68er zerlegt einen Tisch in einer Talkshow

Wir haben nur eine Welt. Aber wenn wir so weiterleben, brauchen wir drei Welten.

Lutz Engelke, Chef der deutschen Kreativagentur Triad, bei der Planung zur Weltausstellung 2010

Die Vergleiche mit der RAF aus den Reihen bayrischer Politiker sind ein einziger Witz, die Durchsuchung und prophylaktische Inhaftierung Einzelner aus dieser Gruppe völlig überspitzt. Gerade Bayern! Ein Autoland, wo die Panzer-PKW hergestellt werden, die unsere Straßen fluten. Deren Politiker sich für Atomkraft aussprechen, aber gegen ein Endlager auf ihrem Grund- und Boden, obwohl das dort hervorragend passen würde. Was für Heuchler! Die Ratschläge erteilen, die Demonstranten mögen doch bitte einfach Müll sammeln gehen oder ähnliches, das sei sinnvoller. Doch bitte nicht stören und die Politik doch bitte den Erwachsenen überlassen. Und währenddessen unterlässt man es nach wie vor, die Bahn ins 21. Jahrhundert zu bringen, baut lieber weiter Autobahnen und vergrößert Parkplätze für SUV.

Innerhalb der nächsten 60 Stunden verlieren wir Wald von der Größe Berlins.

WWF Waldverlust-Ticker 2011

Nein! Wir haben ein Klimaproblem. Die Politik, insbesondere die bayrische Fraktion, macht wenig bis gar nichts dagegen. Außer inhaltslosen Lippenbekenntnissen ohne jegliche Verbindlichkeiten kommt gar nichts, und der CO²-Ausstoß steigt weiter an, so dass nächstes Jahr der Erdüberlastungstag noch früher liegt als dieses Jahr. Und solange das so ist, finde ich es nicht nur richtig, dass dagegen demonstriert wird, es ist zwingend notwendig!

Unsere indigenen Partner betonten von Anfang an, wie toll es sei, dass wir Seite an Seite mit ihnen im Amazonas arbeiteten. Doch das sei nur die eine Hälfte unserer Aufgabe. Sie sagten uns, dass wir, wenn wir ihr Land wirklich dauerhaft schützen wollten, in unserem Teil der Welt arbeiten müssten. Und sie drückten es auf ihre Weise aus: wir müssten den Traum des Nordens ändern – den Traum der modernen Welt, ein Traum, der auf Konsum und Aneignung abzielt, ohne jede Rücksicht auf die Folgen für die Natur oder sogar für unsere eigene Zukunft.

Lynne Twist, Mitbegründerin der Pachamama Alliance

2 Kommentare

  • Rainer Kirmse , Altenburg

    DIE LETZTE GENERATION

    Nicht kriminelle Energie,
    das Wohl der Menschheit leitet sie.
    Für die Zukunft des Planeten
    heißt es handeln, nicht nur reden.

    KLIMAAKTIVISTEN

    Sie sind das Gewissen der Nation,
    uns wach zu rütteln, ihre Mission.
    Werden sie auch beschimpft und bedroht,
    sie gehen ihren Weg unverzagt.
    Uns’re Mutter Erde ist in Not,
    jetzt ist rasche Hilfe angesagt.
    Lieber mal auf die Straße kleben,
    als im SUV Vollgas geben.

    Weniger ist mehr,
    nicht nur im Verkehr
    und beim Verzehr.

    FÜR DEN BLAUEN PLANETEN

    Tornados, Hitze, Wassernot;
    Feuer wüten in Wald und Flur.
    Das Wetter gerät aus dem Lot,
    Klimawandel zieht seine Spur.
    Wir sollten uns Sorgen machen,
    und nicht über Greta lachen.

    Der Mensch, dieses kluge Wesen
    kann im Gesicht der Erde lesen.
    Er sieht die drohende Gefahr,
    spürt die Erwärmung Jahr für Jahr.
    Homo sapiens muss aufwachen,
    seine Hausaufgaben machen.

    Man produziert und produziert,
    plündert Ressourcen ungeniert.
    Gewinnmaximierung ist Pflicht,
    die intakte Natur zählt nicht.
    Börsenkurse steh’n im Fokus,
    Umweltschutz in den Lokus.

    Plastikflut und Wegwerftrend,
    man konsumiert permanent.
    Nur unser ständiges Kaufen
    hält das System am Laufen.
    Unser westlicher Lebensstil
    taugt nicht als Menschheitsziel.

    Die Jagd nach ewigem Wachstum
    bringt letztlich den Planeten um.
    Das oberste Gebot der Zeit
    muss heißen Nachhaltigkeit.
    Statt nur nach Profit zu streben,
    im Einklang mit der Natur leben.

    Zu viele Buchen und Eichen
    mussten schon der Kohle weichen.
    Retten wir den herrlichen Wald,
    bewahren die Artenvielfalt.
    Kämpfen wir für Mutter Erde,
    dass sie nicht zur Wüste werde.

    Wir alle stehen in der Pflicht,
    maßvoll leben ist kein Verzicht.
    Teilen und Second Hand der Trend,
    Repair vor Neukauf konsequent.
    Bei allem etwas Enthaltsamkeit,
    nehmen wir uns die Freiheit.

    Rainer Kirmse , Altenburg

    Herzliche Grüße aus Thüringen

    • MaSan

      Lieber Rainer,

      herzlichen Dank für dein schönes Gedicht. Ich finde es sehr treffend und es zeigt sehr deutlich, dass so viel mehr Menschen einen Wandel verlangen, als das über die gängigen Medien suggeriert wird. Viel, viel mehr!

      Gruß
      Martin

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